Nuri Sahin: Der Temposünder

"Seine Karriere begann mit einem Blitzstart. Gefolgt von einem Tief. Nuri Sahin (17) kommt 2006 nicht in die Gänge. Auch weil ihm die nötige Dynamik fehlt. Nuri Sahin kommt nicht auf die Beine. Ein kleines Tor, vor dem zwei Bälle liegen. Sonst nichts. Der Fantasie des Betrachters bleibt es überlassen, gedanklich einen Spieler in diese Szenerie zu verpflanzen. Aber nicht irgendeinen. Nur ihn. Nuri Sahin, dessen Internet-Auftritt gleich mit einer optischen Botschaft startet: Stars werden hier draußen geboren. In Hinterhöfen. Auf der Straße. Irgendwo, wo der Spaß am Spiel noch ursprünglich ist. Und der Platz schon einmal schäbig. Hier also begann Sahins Geschichte. Die Geschichte von dem türkischen Jungen, der auszog, die Welt zu erobern. Der eine Karriere im Zeitraffer erlebte. Der die Späher großer europäischer Klubs elektrisierte und deren Entscheidungsträger zu Kaufangeboten animierte (FC Arsenal). Der in seinem noch jungen Sportlerleben schneller unterwegs war als es die Polizei eigentlich erlaubt. Am 6. August 2005 das Bundesliga-Debüt im Trikot von Borussia Dortmund. Mit 16 Jahren und 335 Tagen. So jung war vor ihm kein Debütant. Im September die U-17-Weltmeisterschaft in Peru. Sahin erobert den ""Silbernen Schuh"" als zweitbester Torschütze (vier Treffer) und den ""Bronzenen"" als drittbester Spieler des Turniers. Am 8. Oktober folgt der erste Einsatz in der türkischen Nationalmannschaft. Gegen Deutschland (2:0). Sahin schießt das zweite Tor. Und trifft am 26. November in Nürnberg auch in der Bundesliga. Der nächste Rekord: Wieder ist er der jüngste Schütze. Der jüngste aller Zeiten. Die Welt scheint Sahin zu Füßen zu liegen. ""2005"", strahlt er, ""2005 war mein Jahr."" 2006 ist es nicht. Sahin hat einen Hänger. Er gibt zu: ""Es läuft nicht rund. Mir fehlen Kraft und Konzentration."" Sahin streut kaum noch welche von den fein justierten Pässen ein, mit denen er zuvor manche Viererkette als Imitation einer Abwehr entlarvt hatte. Er erlebt den raschen Wechsel vom Licht ins Dunkel. So wie bei einer Diashow. In Dortmund forschen sie nach den Gründen. ""Nuri hat alle Superlative auf sich vereinigt"", sagt Sportdirektor Michael Zorc (43), ""für ihn ging es kometenhaft nach oben. Dabei ist mental und körperlich viel auf ihn eingestürzt. Das war keine natürliche Entwicklung."" Volksheld in seinem Heimatland zu sein, wie ein Popstar verehrt zu werden, die ersten Werbe- und Ausrüsterverträge, der Medienrummel, die Schule, die Sahin inzwischen zu Gunsten einer Berufsausbildung als Mediengestalter beendete - all dies wuchs ihm über den Kopf. ""Ich bin in einer Phase, in der ich viel verarbeiten muss"", sagt er, ""aber das soll keine Ausrede sein."" Zorc hält die schützende Hand über ihn. Was Sahin in der Rückrunde erlebe, sei ein ""Stück weit Normalität"". Deshalb plädiert der Sportdirektor für mildernde Umstände: ""Nuri ist noch kein kompletter Spieler."" Wie auch, in diesem Alter? Doch sein größtes Problem ist womöglich gar keine Frage des Alters. Nuri hat ein grundlegendes körperliches Defizit. Ihm fehlen Antrittsschnelligkeit und Dynamik. Wiederholt merkte Trainer Bert van Marwijk (53) an, dass sein Mittelfeld-Talent selten den Laufrhythmus variiert und abgehängt wird, wenn der Gegner anzieht. Sahin, der Temposünder. Das BVB-Küken arbeitet an dieser Schwäche. ""Ganzheitliches Explosivkrafttraining"" betreibt Fitnesscoach Egid Kiesouw mit ihm, 15 Prozent mehr Schnelligkeit soll er aus Sahin herausholen, am besten sogar 18. Bei den Dortmunder Kollegen Markus Brzenska (21) oder Florian Kringe (23) schlug Kiesouws Therapie an: Sie sind heute zügiger unterwegs als noch in der vorigen Saison. Und Sahin? Sagt: ""Ich nehme zu langsam Fahrt auf. Ich muss körperlich zulegen und spritziger werden."" Sahin sagt auch: ""Ich sehe kein großes Problem."" Sahin werde sich im Fitnessbereich verbessern, verspricht Zorc, der auch simple Fragen nach dem Jungstar mit gefühlter Bedeutung auflädt. Nicht allein die gemessene Geschwindigkeit mache die Qualität eines Spielers aus, beharrt er. Energisch verweist der Sportdirektor, der selbst nicht in dem Ruf eines Sprinters stand und doch in exponierter Stellung fünf Vereinstitel einsammelte, auf die ""Handlungsschnelligkeit"" Sahins und dessen ""überragende Spielintelligenz"". Den bis 2009 laufenden Vertrag des von der Mehrheit der Bundesliga-Profis im kicker zum ""größten Talent"" gewählten Spielers vorzeitig zu verlängern, steht deshalb außer Frage.