Das zweite Leben des Heiko Herrlich

Nicht etwa der Gehirntumor, sondern erst ein Trainingsunfall beendete seine Karriere. Heute gibt Heiko Herrlich seine Erfahrungen als Mensch und Stürmer an Dortmunds Talente weiter. Lesen Sie einen Bericht aus dem kicker-Sportmagazin. Gemäht wurde hier schon eine Weile nicht mehr. Das Gras steht hoch. Die grünen Halme, die sich der im Spätsommer noch bemerkenswert kraftvollen Sonne entgegenstrecken, sind ein paar Zentimeter zu lang. Wer genau hinschaut, stellt sogar fest, dass sie auf einem buckligen Untergrund sprießen. Im westfälischen Werl passen und schießen sie eben auf einer welligen Wiese, hier springt der Ball schon mal unkontrolliert wie eine Flipperkugel, aber das regt niemanden auf. Der Klub spielt in der Bezirksliga, wo Rasen als Luxus gilt. In den meisten anderen Klubs dieser Klasse rumpelt das runde Leder auf Asche, eine gnadenlose Grätsche reißt die Haut an Ober- und Unterschenkeln schnell in Fetzen. Diese Gefahr besteht in Werl nicht. Hier stört, bremst und behindert der Rasen ein wenig, doch das nimmt Heiko Herrlich (33) in Kauf. Die seit vier Monaten von ihm betreuten A-Junioren von Borussia Dortmund sind keinen Luxus gewohnt. Zu Hause sind die Trainingsbedingungen problematisch, und bei den Heimspielen weichen sie noch so lange in einen Vorort aus, bis das neue Leistungszentrum in Dortmund-Brackel seiner Bestimmung übergeben wird. Es ist eine neue Welt, die Herrlich als Trainer betreten hat, eine andere als die, die er in 258 Bundesliga-Partien (75 Treffer) erlebte, eine Welt, in der ihm viele Wünsche von den Augen abgelesen wurden, eine Welt, von der man glaubt, dass jeder Profi sie als Paradies wahrnimmt. Der frühere Star-Angreifer entrümpelt dieses Bild, er könne sich nicht nur an Applaus erinnern, sondern auch an Pfiffe, ""wenn es nicht läuft, musst du eine Menge Druck aushalten"". Dass der Fußball bei all den unbestrittenen Vorzügen und Chancen, die er bietet, auch eine Kehrseite hat, machte Herrlich (Vertrag bis 2006) seinen Jungs schon in den ersten Wochen deutlich: ""Du lernst faszinierende Menschen kennen. Du kannst viel Geld verdienen. Trotzdem ist es ein knallhartes Geschäft. Man darf es nicht idealisieren."" Im Juni hat er seine Ausbildung als Fußball-Lehrer mit der Gesamtnote 1,9 abgeschlossen. Lehrgangsleiter Erich Rutemöller (Köln) lernte in dem Dortmunder einen ""wissbegierigen, gewissenhaften und kritischen"" Schüler kennen. Die Zusammenarbeit mit ihm sei ""angenehm, aber nicht immer einfach"" gewesen, ""Heiko hat seinen eigenen Kopf, er hinterfragt Dinge, die er beobachtet, er muss überzeugt werden"". In Werl stößt Herrlichs Team auf keine nennenswerte Gegenwehr. 7:1 steht es am Ende nach ein paar sehenswerten Kombinationen, die Zuschauer haben ihren Spaß, der Flachs blüht. ""Irgendwann"", witzelt ein einheimischer Besucher, ""irgendwann müssen wir mal eine Sportart finden, die viel mit Fußball, aber wenig mit Laufen zu tun hat. Dann haben wir eine Bombenmannschaft."" Halbliterflaschen klirren. Ein Prost auf die Fußball-Provinz. Anderer Ort, andere Zeit. Der Spielplan der A-Junioren-Bundesliga sieht das Duell mit der anderen Borussia vor. Dortmund gerät in Holzwickede gegen Gladbach mit 0:1 in Rückstand. Die erste Saisonniederlage droht. Doch weder dieses Gegentor noch die ungeschickten (und schließlich vergeblichen) Bemühungen seiner Jungs, die Partie zu drehen, locken Herrlich aus der Reserve. Fast regungslos sitzt er auf seinem Klappstuhl, zieht mal das rechte, mal das linke Bein an, verschränkt die Arme davor, brüllt nicht, schreit nicht. Herrlich will kein Kasper an der Bande sein, kein Hampelmann, der wie ein neopolitanischer Pizzabäcker mit den Armen fuchtelt und wilde Anweisungen ausstößt. ""Wenn ich vorgebe, ruhig zu spielen, kann ich nicht wie ein Verrückter hin und her springen"", sagt er. Herrlich, der Libero der Emotionen. Diesen Titel hat eine Zeitung Ottmar Hitzfeld einmal verliehen. Libero der Emotionen, weil Hitzfeld seine Gefühle unter Verschluss halten konnte wie kein Zweiter. Herrlich hat sich ein Stück weit inspirieren lassen von seinem früheren Coach, ""in Sachen Menschenführung"", verrät er, sei Hitzfeld ""der Allergrößte"". Ein Konflikt mit Matthias Sammer, dem genialen Einpeitscher und Poltergeist, fällt ihm ein. Sammer hatte Hitzfeld nach einem Spiel in Hamburg wüst attackiert, ""und wir dachten, am nächsten Tag rappelt es in der Kiste"". Es geschah - nichts. Hitzfeld verlor keine Silbe über den Vorfall. Was sein damaliger Stürmer daraus lernte? ""Man muss nicht über jeden Stock springen, der einem hingehalten wird."" Im November 2000 erkrankt Heiko Herrlich. Die Diagnose ist schockierend. Spezialisten finden einen ""bösartigen Tumor im Mittelhirn"". Der Tumor ist nicht operabel. Eine sechswöchige Strahlentherapie rettet sein Leben. Mit dem Willen, der Zielstrebigkeit und dem Biss, den er heute den 17-bis 18-jährigen Spielern predigt, schafft Herrlich ein Wunder, das Comeback. Monate später zertrümmert Sunday Oliseh bei einem Trainingsunfall sein Joch- und Nasenbein. Herrlich braucht eine Spezialbrille. Und berichtet: ""Danach konnte ich nicht mehr so wie vorher in die Zweikämpfe gehen."" Herrlich sieht ein, dass seine Karriere zu Ende ist - mit 28. Die Karriere als Aktiver. Die BVB-Führung zeigt ihm neue Perspektiven im Trainerstab auf. ""Es steckt noch so viel Energie in mir"", sagt er. Inzwischen gilt er als geheilt, die jährlichen Nachuntersuchungen sind reine Routine. ""Mir geht es gut"", beteuert Herrlich, ""ich führe ein schönes Leben mit meiner neuen Aufgabe."" Von morgens bis abends kreisen seine Gedanken um den Fußball. ""Wie kann ich das, was ich tue, optimieren?"" Herrlich achte besonders auf Disziplin, berichtet Kapitän Nico Hillenbrand, ""und es liegt ihm viel daran, dass die Mannschaft zusammenhält"". Teamgeist auf dem Platz ist der wichtigste Wert, den Herrlich vermitteln will. Als leuchtendes Beispiel dient ein früherer Kollege, der ""für jeden sein Leben gegeben und Gras gefressen"" habe, wie Herrlich hervorhebt. Eine ""Steffen-Freund-Mentalität"" fordert er deshalb ein, der Einzelne sei nichts, aber das Ganze alles. Um zu verstehen, was auf Jugendliche auf der Schwelle zur Professionalität einprasselt, vor allem auf die mit Talent gesegneten, muss Herrlich nur in den eigenen Erinnerungen kramen. Dieses ""Riesentrara"", wenn ein paar Vereine gleichzeitig auf der Matte stehen, mit Geldscheinen wedeln und das Blaue vom Himmel versprechen. Diese Orientierungslosigkeit, ""wenn du nicht mehr weißt, wo hinten und vorne ist"". Diese Gefahr von Selbstzufriedenheit, ""wenn du auf dem Mannschaftsfoto der Profis bist und plötzlich glaubst, dass du es geschafft hast"". Immer wieder weist Herrlich deshalb darauf hin, wie trügerisch es sein kann, wenn man ""am Napf gerochen hat"" und von diesem Geruch benebelt wird. Herrlichs Trainingsinhalte sind ein Spiegelbild der eigenen Laufbahn. Sie hat ihn gelehrt, nie aufzustecken, die eigenen Fähigkeiten zu vervollkommnen, sich für die Mannschaft unentbehrlich zu machen. Jetzt ist es seine Mission, davon die nächste Generation zu überzeugen.