Ronaldinhos kleiner Bruder

Man hat Abel Braga (54) schon fröhlicher gesehen als in diesen Tagen. Es läuft nicht rund bei Internacional Porto Alegre, der Gewinner der Copa Libertadores lahmt, ohne die ins Ausland verkauften Stars stottert sein Spiel. Paulo C,sar Fonseca do Nascimento, genannt Tinga, weint Trainer Braga besonders hinterher, ""einen Spieler seines Kalibers zu ersetzen"", jammert er, ""ist fast unmöglich."" Sechs Jahre lang spielte Dortmunds tinga (28) mit Weltfußballer Ronaldinho in einem Team. Der neue Mann im Mittelfeld ist kein typischer""brasilianischer Ballzauberer, er ist bemerkenswert robust. Der für 2,9 Millionen Euro nach Dortmund veräußerte Mittelfeld-""Kommandeur"" bestimmte Tempo und Struktur seines Teams auf so außerordentlich geschickte Weise, dass die Zielfahnder der Borussia ihn entdeckten. Eigentlich stand ein ganz anderer Typ auf dem Wunschzettel von Sportdirektor Michael Zorc (44). Einer wie Michael Ballack. Oder Tim Borowski. Groß. Kopfballstark. Mit einem Schuss wie ein Pferd. ""Aber solche Leute"", sagt Zorc, ""findest du nicht an jeder Straßenecke."" Dann kam der Tipp aus Brasilien. Es folgten die ersten Bewertungsbögen der Scouts. Und Zorc war begeistert. Der Gedanke, den mit seinen gerade mal 170 Zentimetern eigentlich zu kleinen Tinga zu verpflichten, verfestigte sich immer mehr. Im Mai flog Zorc selbst nach Brasilien, Bert van Marwijks Co-Trainer Dick Voorn (57) begleitete ihn. Die beiden Dortmunder erlebten Tinga zwei Mal live, besuchten ihn zu Hause, checkten sein Umfeld. ""Relativ schnell gelangten wir zu dem Eindruck, dass wir es mit einem sehr professionellen Fußballer zu tun haben."" Journalisten in Südamerika sehen in Tinga den Gegenentwurf zu kapriziösen Typen wie dem früheren Berliner Marcelinho (31) oder launischen Landsleuten wie Marcio Amoroso (32). Wer sich in Dortmund zu einem Interview mit dem Torschützenkönig von 2002 verabredete, lernte, dass die Uhren der Sturm-Diva anders tickten: Amoroso kam spät, ließ seine Gesprächspartner gerne warten oder erschien gar nicht. Das erste längere Treffen des kicker mit Tinga soll um 14.30 Uhr beginnen. Fünf Minuten nach dem verabredeten Termin meldet sich Dolmetscher Chris Hansen. Aber nicht, um wortreich um Aufschub zu bitten, sondern um sich nach dem Verbleib des überfälligen Reporters zu erkundigen. Dessen Verspätung wegen eines Staus auf der Autobahn 1 zwischen Remscheid und Wuppertal-Nord akzeptiert er als Erklärung. Und wartet eine halbe Stunde. Diese Begebenheit bestätigt den Eindruck, den Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke (47) nach den ersten Kontakten mit dem Mittelfeldspieler hatte. Tinga sei ein ""sehr ernster, reifer"" Zeitgenosse, und wenn ihm Watzke dann doch eine ""gewisse Unbekümmertheit"" zugestehen will, dann nur mit dem Zusatz, dass diese Unbekümmerheit ""seriös unterlegt"" sei. Tinga scheint kein Luftikus zu sein, er lernte als Ehemann und Vater früh, Verantwortung zu übernehmen. Gattin Milene, eine Architektur-Studentin, die nach Möglichkeit ihren Abschluss in Deutschland machen möchte, und Söhnchen Davis (4) folgten ihm in die neue Welt. Haushälterin Carmen betreut in dem Haus, das vorher Tomas Rosicky bewohnte, die Küche. Im Wohnzimmer flimmert schon ""Globo"", der führende TV-Sender Brasiliens, über die Mattscheibe. Zu Hause in Porto Alegre steht sein Haus in der Nähe von Ronaldinhos Anwesen. Sechs Jahre, erzählt der Neu-Dortmunder, habe er in der Jugend mit dem wohl besten Fußballer der Welt in einer Mannschaft gespielt. Dank seiner überragenden Begabung wurde der zwei Jahre jüngere Ronaldinho immer in der nächsthöheren Altersklasse eingesetzt, Tinga wachte an seiner Seite, bis sich ihre Wege trennten. Die Freundschaft der beiden Fußballer lebt weiter. ""Mindestens einmal pro Woche telefonieren wir"", verrät Tinga. Wenn der BVB-Brasilianer heute von Ronaldinho erzählt, dann scheint Tingas Herz wie ein Motor auf Hochtouren zu rasen. Voller Hochachtung, Zuneigung und Wärme spricht Tinga über den Weltstar, so als handele es sich um einen großen Bruder. Tatsächlich überragt Ronaldinho seinen Nachbarn aus Porto Alegre um elf Zentimeter - und sicher auch ein Stück weit an fußballerischer Brillanz. Doch der Vergleich mit dem Ball-Virtuosen aus Barcelona hinkt ohnehin: Wie der ebenfalls aus Porto Alegre stammende Carlos Dunga, seit zwei Monaten der neue Trainer der ""Selecao"", erweiterte der technisch gleichwohl mit mancher Rafinesse gesegnete Tinga sein Repertoire um jene Tugenden, die nationale wie internationale Experten als die ""deutschen"" preisen. Mit einer bemerkenswerten Robustheit verteidigt Tinga das ihm zugewiesene Revier aggressiv, ""er geht auch dahin, wo es weh tut"", bemerkte Christian Wörns (34). Weil der neue Kollege fußballerisch ohnehin sehr stark sei, ordnet ihn der Dortmunder Kapitän schon nach vier Bundesliga-Einsätzen in die Kategorie ""Sportlicher Volltreffer"" ein. Zweikampfstärke und Sieges-willen imponierten Watzke bereits bei der Begutachtung erster Video-Kassetten. Tinga, dämmerte dem Geschäftsführer, sei ""genau der Spieler, den wir brauchen"". Als der für gewöhnlich sehr kritische Zorc Ende Mai von seiner Inspektionsreise zurückkehrte und in bisher selten erlebter Begeisterung für Tinga entflammte, ""da"", erinnert sich Watzke, ""war mir klar, dass wir auf einer heißen Spur sind."" Das Angebot der Borussia hatte dann den selben Effekt, als würde man mit einer Scheibe Wurst vor einem Hund wedeln. Tinga schnappte begierig zu, freilich nicht ausschließlich aus finanziellen Gründen, wie er beteuert. Nach seinem nur zwölfmonatigen Engagement in Portugal (Sporting Lissabon, 2004) wollte Tinga ""unbedingt noch einmal nach Europa"", um sich ""in einer großen Mannschaft durchzusetzen."" Das ist sein großes Ziel, viel mehr als jenes, den bisher zwei Nationalmannschafts-Einsätzen unbedingt weitere folgen zu lassen. Wenn es gut läuft, bin ich nicht der Beste. Wenn es Schwierigkeiten gibt, nicht der Schlechteste. An seiner jetzigen Wirkungsstätte sieht man Tinga als ideales Schmiermittel für das gelegentlich knirschende Räderwerk im Mittelfeld. Trainer Bert van Marwijk (54) nennt seine Neuerwerbung ""schlau"", ihm gefällt, dass Tinga den Stürmern den Ball in den Fuß spielt ""und sich dann selbst wieder anbietet"". Tinga läuft viel, und er läuft für andere mit. Nur an den schnelleren Fußball in Deutschland muss er sich noch gewöhnen - und an das intensivere Training. Sich selbst definiert er im besten Sinn als Teamplayer, er sei kein Spieler, der eine Partie ""allein bestimmt oder entscheidet"". Tinga wörtlich: ""Wenn es gut läuft, bin ich nicht der Beste. Und wenn es Schwierigkeiten gibt, nicht der Schlechteste."" Von Dede, der sich bei der Integration des insgesamt achten BVB-Brasilianers (siehe Infofläche) wieder einmal als unverzichtbar erweist, ist überliefert, dass ihm während seines ersten Winters in Deutschland (1998/99) in Unkenntnis von Schnee und Eis vor Schreck die Gesichtszüge einfroren. Entsprechende Aufklärungsarbeit muss er bei Tinga nicht leisten. Porto Alegre, klärt dieser auf, liege im Süden Brasiliens, ""ich weiß, was Kälte ist.""